IM STURM DES LEBENS
Text: Stefan Kruecken, Ankerherz. /// Fotografie: Andree Kaiser
Der Sturm nimmt weiter an Härte zu, und der Nordatlantik erinnert nun an eine Landschaft aus Beton. Schläge gehen durchs Schiff, wenn die Fähre „MS Norröna“ besonders große Wellen durchbricht. Noch einen halben Tag ist es bis Thorshavn, Färöer-Inseln, ein Zwischenstopp vor dem Zielhafen auf Island. Graue, dunkle Wolken jagen über den Himmel, der Sturm heult und jault und pfeift, und an Deck genießt ein alter Seemann das Wetter.
Kapitän Schwandt sitzt in einer geschützten Ecke vor einer Tasse mit schwarzem Kaffee und raucht eine Zigarette. Er raucht immerzu, ohne Unterlass, hat den Mantelkragen hochgeschlagen und beobachtet die See. Es sei ein Gefühl, nach Hause zu kommen, erklärt er. Sein ganzes Leben ist er auf dem Meer unterwegs gewesen und alles, was er lernte, brachte ihm der Ozean bei. Schwandt, Jahrgang 1936, schnipst mit seinem Sturmfeuerzeug die nächste Kippe an, dann zeigt er aufs Wasser.
„Jung, sieh`es dir an“, sagt er mit dieser Stimme, die seit mehr als sechs Jahrzehnten von mehreren Packungen täglich geteert wird, „siehst du, wie unbedeutend wir sind? Wir sind Tropfen, nur kleine Tropfen.“
Kapitän Schwandt: Sturmwarnung
Wie viele Stürme er in seinem Leben abritt, hat er nicht gezählt. Hamburg-Chicago-Linie fuhr er früher, natürlich auch im Herbst und Winter, wenn alle Seeleute den Nordatlantik besonders fürchten. Einmal zerschlug ein Brecher die Brücke. Es gab mehrere Schwerverletzte, das Schiff trieb ohne Strom und ohne Ruder zwischen den haushohen Wellen, mit Munition für die NATO an Bord. „Ich dachte: ‚Gut, das war’s’“, sagt Schwandt. Angst habe er nicht gehabt, ganz seltsam, eher so ein Gefühl, dass alles ganz natürlich passierte. Als das Schiff es wie durch ein Wunder und mit Hilfe eines amerikanischen Kriegsschiffs in den Hafen von Lissabon schaffte, besetzte die Mannschaft ein komplettes Bordell, die „Texas Bar“, und Sekt und Bier flossen in Strömen. Drei Tage dauerte die Orgie. „Die alten Römer klatschten aus dem Jenseits begeistert Beifall“, sagt Schwandt.
Es sind diese Geschichten, die das Leben von Kapitän Schwandt zum Stoff für einen SPIEGEL-Bestseller machten, die er in Talkshows und einer wöchentlichen Zeitungskolumne erzählt, und warum ihm mehr als 150.000 Fans auf Facebook folgen. Harte, ehrliche Abenteuer, garniert mit einem Augenzwinkern und der Erfahrung eines Mannes, der wirklich jeden Hafen kennt. „Ich habe überall auf der Welt nette Menschen kennengelernt. Überall gibt es auch Arschlöcher. Das hat nichts mit Hautfarbe, Pass oder Religion zu tun.“ Arschlöcher: Das sind für ihn die neuen Rechten, das sind AfD und Pegida und jene, die das Rad zurückdrehen wollen. Er bezieht offen Position gegen sie und wird deshalb teils massiv bedroht. „Schwandt an die Wand!“, forderte eine Nazi-Gruppe Schwandt per Brief, in den Sozialen Netzwerken sollte er eingeschüchtert werden. Schwandt beeindruckt das überhaupt nicht. „Wollen die einen alten Mann zum Krüppel schlagen?“, fragt er.
Aufgewachsen in den Trümmern von Hamburg
Seine Überzeugung ist ein Ergebnis seiner Lebensgeschichte. Schwandt wächst in den Trümmern von Hamburg auf, im Rotlichtviertel hinter dem Hauptbahnhof. Die Jahre nach dem Krieg sind ein Überlebenskampf um Nahrung, Kleidung und Wärme. Als sein Vater, ein ranghoher Nationalsozialist, aus Kriegsgefangenschaft zurückkehrt, konfrontiert er ihn, zeigt ihm das Buch „der gelbe Stern“, das er von seinem selbstverdienten Geld gekauft hat. Sein Vater will die Verbrechen nicht wahrhaben, und für den jungen Schwandt steht fest: Er will raus. Weg aus dieser engen Welt. Er sieht die Schiffe auf der Elbe, und nach einem Ausflug mit seinem Schulleiter, der den Jungs mit einem kleinen Kutter die Möglichkeit gibt, der Tristesse des Alltags ein wenig zu entkommen, geht er zur See. Mit 16, trotz aller Proteste seiner Eltern. Im Kopf: Caracas, Hongkong, Rio de Janeiro, Palmenstrände und Mädchen in knappen Baströcken.
Der Alltag an Bord aber sieht ganz anders aus. Auf altersschwachen Schiffen, die gerade seetüchtig sind, friert Schwandt im Winter auf der Ostsee, hungert oft, weil die Eigner mit der Verpflegung geizen, und schuftet als Schiffsjunge. Die ersten Häfen: Finnland, Holz für englische Kohlengruben holen. Wenn Schwandt aus dieser Zeit erzählt, klingt vieles nach Huckleberry-Finn für Erwachsene: wild und sorglos, voller Alkohol, Tattoos und Frauen. „Mein Leben war ein einziges Abenteuer“, sagt Schwandt. „Ich möchte nicht einen Tag missen.“
Er arbeitet immer weiter, er beißt sich durch, wird Matrose, Vollmatrose, verdient das Geld für die Seefahrtsschule am Hochofen eines Stahlwerks. Das Ziel ist klar: Kapitän will er werden. Am Klischee, dass ein Seemann in jedem Hafen eine andere Braut hat, ist zu jener Zeit, Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre, alles wahr. Läuft ein Schiff im Hafen ein, orientieren sich die Seeleute sofort am Kirchturm. Rund um die Kirchturmspitzen nämlich befinden sich die ältesten, heruntergekommenen Viertel, in denen das Rotlicht schimmert.
In jedem Hafen gibt es ein Etablissement, das jeder Seemann kennt: „John Bull“ in Piräus, „El cadro negro“ in Bilbao, das Rotterdamer „Walhalla“, das „Theatre Schanghai“ in Havanna, das „Golden City“ in Bremen und den „Silbersack“ auf Sankt Pauli. In Shanghai fährt in den fünfziger Jahren „Susi´s Rolling Bar“ vor, ein umgerüsteter Londoner Doppeldeckerbus für den zügigen Verkehr: Im Untergeschoss befindet sich eine lange Bar, an der man die ersten Drinks kippen und Kontakt zu den Mädchen aufnehmen konnte, um dann im Obergeschoss in einem kleinen, nur durch einen Vorhang abgetrennten Abteil zu verschwinden. Schwandt zitiert an dieser Stelle gerne den brasilianischen Schriftsteller Jorge Amado: „Es ist unmöglich, mit allen Frauen der Welt zu schlafen, aber man muss es wenigstens versuchen.“
Kapitän Schwandt: „Sich selbst nicht zu ernst nehmen“.
Auch dies macht ihn besonders: die Fähigkeit, sich selbst nicht zu ernst zu nehmen. Kapitäne sind fast immer autoritäre Persönlichkeiten, die es gewohnt sind, keine Anweisungen zu befolgen, sondern Befehle zu geben. Der eigene Ruf steht über allem. Schwandt hingegen brummelt: „Wieso soll ich die Puff-Geschichten nicht erzählen? War doch so“, und wenn er in einem Schiffssimulator zwei Katastrophen verursacht, verschweigt er es nicht, sondern schreibt darüber in seiner Kolumne für die „Hamburger Morgenpost“: „Wie ich die MS Europa versenkte.“
„MS Norröna“ macht im Hafen von Thorshavn fest, der Hauptstadt der Färöer-Inseln. Wenig später eine Durchsage: Weil der Sturm draußen auf dem Nordatlantik nicht abflaut, hat sich der Kapitän der Fähre entschieden, 18 Stunden länger im sicheren Hafen zu bleiben. Als wir wieder auslaufen, hat der Wind zwar nachgelassen – die Wellenhöhe aber nicht. Zwischen acht und zehn Meter kommen sie, es kracht und pfeift und das Schiff schüttelt sich. „Herrlich“, findet Schwandt, der wieder in seiner Ecke auf dem Sonnendeck sitzt, mit seinem Kaffee und Zigaretten. Man sieht ihm eine tiefe Zufriedenheit an.
Wie es früher gewesen sein muss in solch einem Orkan? Auf einem kleinen Schiff, das nicht von der Stelle kam? „Was wir damals hinter dem Horizont erlebten, bekam keiner mit“, meint Schwandt. „Die harte Arbeit, die Furcht, die Einsamkeit. Die Leute sahen immer nur, wenn wir im Hafen den großen Hund von der Kette ließen.“ Der große Hund hat ihn später auch gebissen – und seine Alkoholerkrankung, über die er offen spricht, weil er andere warnen möchte, ist ein Thema seiner Biographie „Sturmwarnung“. Dass er ein Problem hat, wird Schwandt erst bewusst, als er vor dem Frühstück ein Wasserglas Scotch kippen muss, um das Zittern seiner Hände zu beseitigen. Ein Typ wie Schwandt geht nicht in eine Entzugsklinik: Er stellt sich den Kühlschrank voller Milchtüten, mit denen er seinen Körper entgiftet, und schließt sich vier Tage lang ein. Nach einem Delirium gelingt der kalte Entzug in Eigenregie. 43 Jahre ist es her. Keinen Tropfen Alkohol, hat Schwandt seither angerührt.
Er entscheidet sich, wegen seiner Familie an Land zu bleiben und wird Kapitän eines Zollkreuzers, mit dem er Drogenschmuggler auf der Elbe und in der Deutschen Bucht jagt. Jahrelang hat er einen gepackten Koffer und griffbereit zu Hause stehen, nur für das Gefühl, sofort zum Hafen fahren und auf ein Schiff gehen zu können. „Fühlt sich an wie ein Trucker, der auf einen Tretroller umsteigt“, meint Schwandt. Langweilig wird es auch im neuen Job nicht. Größter Drogenfund sind mehr als dreieinhalb Tonnen Marihuana, den die Fahnder als schwimmende Päckchen aus einem Hafenbecken fischen, und einmal dient Schwandt für einen Fernseh-Thriller als Model.
Kapitän Schwandt: Es geht um Haltung
Mit 80 Jahren startet nun die dritte Karriere, mit Auftritten in Talkshows von Lanz bis Elstner. Eine Produktionsfirma will sein Leben verfilmen, ein TV-Blog geht im Herbst auf Sendung, vor kurzem las der Johnny-Cash-Verehrer im berüchtigten Hamburger Gefängnis „Santa Fu“ und noch nie, scherzt Schwandt („nenn’ mich bloß nicht Senior, ich bin ein alter Mann!“), hatte er so viele Termine. Ihn erstaunt das Interesse an seiner Person. „Ich kann immer noch nicht glauben, dass mein Leben so viele Menschen interessiert“, sagt er. „Das war doch alles soweit normal.“
Um Haltung geht es. Darum, wie man in einem Sturm die Fassung bewahrt und seiner Crew ein Beispiel ist. Darum, wie man sich anderen Menschen gegenüber korrekt verhält, ohne dafür ein Gesetzbuch zu benötigen: Empathie für Außenseiter, Renitenz gegen falsche Autoritäten, Standhaftigkeit für die eigenen Prinzipien. Es beschreibt etwas, das man schlicht „gesunden Menschenverstand“ nennen könnte.
Es ist Nacht geworden. Die Lichter von Seydisfjördur, dem Zielhafen der „Norröna“, tief in einem Fjord im Osten Islands, kommen schemenhaft in Sicht. Ein Schneesturm zieht auf.
„Na dann,“ sagt der Käpt´n, als er über die Gangway geht.
Hinweis: Kurz nach dem Erscheinen dieser Geschichte erkrankte Kapitän Schwandt schwer. Er musste sich aus der Öffentlichkeit zurückziehen.
STURMWARNUNG gibt es überall im Buchhandel und hier im Ankerherz Shop. Im Jubiläumsjahr von Ankerherz ist die Biographie von Kapitän Schwandt stark reduziert.
Die Fotos von Andree Kaiser entstanden auf dem Nordatlantik, auf der Skua-Tour. Im Januar 2019 bieten wir diese Reise wieder für Gäste an.