Manchmal entscheidet sich das Schicksal von Menschen – und von Tieren – mitten in der Nacht, auf einem dunklen Fluss in England. Es ist kurz vor Mitternacht, am 8. Juli, als die Freiwilligen der RNLI-Station Hunstanton alarmiert werden: Ein Kabinenboot ist im River Ouse bei King's Lynn auf Grund gelaufen. Die Crew zögert keinen Moment. Mit dem Luftkissenboot „Hunstanton Flyer“ machen sie sich auf den Weg.
Zunächst scheint der Einsatz glimpflich zu verlaufen. Die Retter sichern das Boot, unterstützen die Menschen an Bord. Doch gegen drei Uhr morgens kommt der nächste Notruf: Das Boot beginnt zu sinken. Sofort kehrt der „Flyer“ um, und auch das schnelle Motorboot „Spirit of West Norfolk“ wird zu Wasser gelassen. Vier Menschen – zwei Männer und zwei Frauen – werden vom sinkenden Boot geholt. Doch damit endet der Einsatz nicht.

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Noch immer befinden sich Tiere an Bord. Und zwar nicht wenige. Die Freiwilligen der RNLI riskieren ein weiteres Mal ihre Sicherheit, um sie zu retten. Sie holen 15 Hunde (!), drei Katzen, zwei Papageien, eine Schlange und sogar eine Schildkröte von dem havarierten Schiff, bevor es um 4:15 Uhr endgültig untergeht. Ein Feuerlöschboot, ein Schlepper, Polizei und Sanitäter sind ebenfalls im Einsatz. Am Ende kehren alle Beteiligten erschöpft zu ihren Stationen zurück.
Es ist 7 Uhr morgens.
Die Retter aus Hunstanton haben da bereits zwei weitere Einsätze hinter sich: Am frühen Abend hatte ein Boot mit vier Menschen vor Brancaster gekentert – die Betroffenen schafften es selbstständig an Land. Nur wenige Stunden später wurden vier vermisste Personen vor Heacham gemeldet, auch sie konnten sich rechtzeitig retten.
Drei Einsätze in einer Nacht.

Wir haben die Retter von Hunstanton vor einigen Monaten besucht - durch einen Zufall. Hier lest Ihr die Geschichte.
Auf dem Weg zum Strand von Old Hunstanton fällt der Blick auf das Boathouse der RNLI. Die Tore sind geschlossen, doch Andy, der Boathouse Manager, winkt heran: „Wollt Ihr mal einen Blick reinwerfen?“ fragt er freundlich. Seit 1824 gibt es hier an der Küste von Norfolk eine Station der Seenotretter – gegründet von der Norfolk Shipwreck Association. Eine Küste, berüchtigt für ihre Untiefen, wandernden Sandbänke und den tückischen Wechsel von Ebbe und Flut.
Zwei Besonderheiten prägen die Station von Hunstanton: Zum einen das Luftkissenboot „Hunstanton Flyer“, von dem es nur vier Stück auf den Britischen Inseln gibt. „Wir kommen mit ihm überall hin“, sagt Andy. „Auch dorthin, wo kein normales Boot mehr fahren kann.“ Gerade erst, erzählt er, haben sie wieder drei Wanderer aus einer misslichen Lage gerettet – sie hatten sich zu weit hinausgewagt und waren von der auflaufenden Flut überrascht worden.

Mehr als 45 Einsätze zählte die Station allein im vergangenen Jahr. Die Gefahren am weiten Strand werden oft unterschätzt: Menschen geraten in Untiefen, versinken im Schlick oder können dem Tempo der auflaufenden Tide nicht mehr entkommen.
Jede Tafel erzählt eine Geschichte
Im Inneren der Station hängt die Geschichte in Form von schwarzen Tafeln mit weißer Schrift an den Wänden. Jeder Einsatz, jedes gerettete Schiff, jede Rettung ist verzeichnet. Eine Tafel vom 20. November 1884 etwa nennt die Bark „Alabama“ aus dem schwedischen Helsingborg – zwölf Seeleute wurden damals aus schwerer Seenot gerettet.
1993 endet die handgeschriebene Chronik. „Seitdem geht alles ins Internet“, sagt Andy und zuckt die Schultern. Es ist offensichtlich, dass ihm das alte System besser gefallen hat. Denn jede dieser Tafeln erzählt von Mut, Hingabe und Opferbereitschaft.

Die zweite Besonderheit der Station ist der Traktor, der das Motorboot „Spirit of West Norfolk“ zu Wasser bringt – so tief, dass er selbst bis über den Fahrersitz im Wasser stehen kann. „Wir haben das zweitschnellste Boot der RNLI-Flotte“, sagt Andy. Und führt uns in den Bereich der Station, den Besucher normalerweise nicht zu sehen bekommen: Hier hängen die wärmenden Overalls, die Neoprenanzüge, die Helme mit Funk. Jeder Gegenstand hier steht für Einsatz, für Bereitschaft – und kostet, wie Andy betont, viel Geld. Denn die britischen Seenotretter finanzieren sich, wie auch ihre deutschen Kollegen von der DGzRS, ausschließlich über Spenden.
Mit dem Traktor ins Wasser
238 Stationen gibt es in Großbritannien, über 40.000 Retter sind ehrenamtlich im Einsatz. Männer wie Andy, der nun die Tore der Station schließt und uns hinterherruft: „Have a nice day!“
Wir gehen hinunter zum Strand und wissen: Die, die auf See aufpassen, sind bereit – jederzeit.
























