ANKERSCHMERZ, Straßengeschichten: Scham

ANKERSCHMERZ, Straßengeschichten: Scham - Ankerherz Verlag

In dieser Woche las ich die Schlagzeile von zwei obdachlosen Männern, die Wasserflaschen auskippten, um sich vom Pfand Alkohol zu kaufen. Not macht erfinderisch. Ein Süchtiger wird immer einen Weg finden, seine Sucht zu befriedigen. In Lebensmittelgutscheinen für Obdachlose sind Spirituosen und Tabak ausgenommen.

Ich finde es falsch, die ärmsten Menschen an den medialen Pranger zu stellen wegen ein paar Euro. Vermutlich wird es Sanktionen der Behörde geben. Sie werden nichts bringen. Es ist demütigend und erniedrigend.

Ich wurde oft sanktioniert, manchmal zu hundert Prozent. Dann bekommt man kein Geld für die Miete oder den Lebensunterhalt, für drei Monate. Ich konnte die Miete nicht aufbringen und landete wieder auf der Straße. Einmal in der Woche bekommt man einen Lebensmittelgutschein.

Die Scham an der Supermarktkasse

Es gab Situationen, in denen ich mich schrecklich schämte. Ich habe diese Erfahrungen immer direkt aufgeschrieben, anders konnte ich das nicht verarbeiten. In jedem Text stand der Satz, dass ich „meine Würde verloren“ hatte. Es war, als gehörte ich einfach nicht mehr dazu. Ich war kein Teil unserer Gesellschaft mehr. Ich war nichts.

Ich stand lange im Kaufland in Fuhlsbüttel, schlich zwischen den grünen Kisten hin und her. Ich hatte die Kassen im Blick und wartete, bis nichts los war. Dann packte ich meinen Einkauf aufs Fließband. Genau für 40 Euro. Ich hatte es drei Mal ausgerechnet und jeden Preis untereinander auf Papier geschrieben.

 

Ich war dran und sah, dass sich hinter mir eine Schlange bildete. Knapp über 39 Euro kostete der Einkauf. Richtig gezählt. Ich holte einen gefalteten Zettel aus der Jackentasche. „Was ist das“?, fragte die Kassiererin. Ich antworte: „Das ist ein Lebensmittelgutschein vom Amt. 40 Euro.“

Die Kassiererin beugte sich zum Mikrofon: „Filialleiter zur Kasse bitte.“

Die Schlange war nun wieder richtig lang. Ich sah in die Gesichter und spürte Unruhe und Verwunderung. Ich spürte Scham.

Der Filialleiter erschien. Ich kramte meinen Ausweis raus. „Was ist das?“ Ein vorläufiger Ausweis. „OFW“, das bedeutet „Ohne festen Wohnsitz“. Ist aber ein gültiges Ausweisdokument.

Der Filialleiter prüfte, ob der Name auf dem Gutscheine mit dem Ausweis übereinstimmte. „Sie müssen ja die gleiche Person sein“, sagte er. „Wollen sie sich für 60 Cent noch einen Riegel nehmen? Sie wissen ja, dieser Gutschein ist nur einmal gültig. Es gibt kein Wechselgeld.“

Ich wollte nur weg,

Ich packte den Einkauf in die Tüte und verschwand. Was ich mit den Lebensmitteln für diese Woche tat, war das nächste Problem. Auf der Straße gibt es keinen Kühlschrank.

Die Prozedur im Supermarkt dauerte vielleicht fünf Minuten. In jeder Sekunde wollte ich im Boden versinken.

Dominik Bloh, Jahrgang 1988, lebte elf Jahre lang immer wieder auf den Straßen von Hamburg. Gerade erschien sein Buch darüber: „Unter Palmen aus Stahl“, überall im Handel und versandkostenfrei hier im Webshop.

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