Die Geschichte einer Britin, die in der Ägäis von einem Kreuzfahrtschiff fiel und nach zehn Stunden gerettet werden konnte, geht in diesen Tagen um die Welt. Einige Fragen sind noch offen und manches wirkt an der Geschichte eigenartig, doch Fakt ist: Immer wieder fallen Passagiere von Bord von Kreuzfahrtschiffen. Nach Medienberichten sollen es knapp zwei Stürze im Monat sein. Oft sind es Unfälle, manchmal Selbstmordversuche. Und in wenigen Fällen stecken auch Verbrechen dahinter. Offizielle Zahlen gibt es nicht. In einer Branche, in der es vor allem um Sonnenschein, Sorglosigkeit und volle Buffets gibt, redet man nicht gerne über Schattenseiten.
Lest hier den Auszug aus unserem Buch „Dr. Kreuzfahrt“, in dem der erfahrene Schiffsarzt Dr. Horst Schramm aus seiner Zeit an Bord von Luxus-Kreuzfahrtschiffen berichtet. Er hat alles erlebt: Blinddarm im Atlantiksturm, akute Galle im Panamakanal, einen Heiratsschwindler und Windstärke 15 unter Island. Und eine höchst dramatische Nacht: „Frau über Bord!“
„Frau über Bord!“
„Wenn abends die Sterne über einem stehen, trinke ich gerne ein Bier in Rick’sBar. Ich spüre den Fahrtwind im Gesicht. Das Schiff gleitet durch die Dunkelheit, die Seele beginnt zu atmen, es sind die schönsten Stunden. Ich kann versichern: Der kürzeste Weg zu sich selbst führt um die Welt. Und am Besten über das Meer.
In der kommenden Nacht schlafe ich unruhig, werde immer wieder geweckt durch die Schläge der Wellen gegen den Bug. Mein Telefon blinkt Rot, ich greife zum Hörer. Der Kapitän ist dran:
„Doc, aufstehen, gleich gibt’s Alarm!“
Ich habe keine Zeit, um ihn zu fragen, was los ist. Ich höre es wenig später. „Bravo-Bravo“, das heißt „Mann über Bord“, mit dieser Durchsage weckt er nun, nachts um 2.00 Uhr, Jeden an Bord, es gibt keine Ausnahmen. Ich weiß, was nun folgt: Bei diesem Alarm sind besonders das Suchteam auf der Brücke und das Medical Team gefragt. Ich ziehe mich an und trete hinaus auf den Gang. Während die letzten Gäste aus Rick’s Bar Richtung ihrer Kabinen wanken, hasten der Bootsmann und das gesamte Deck Department an mir vorbei.
Alle Seitentüren auf Deck 3 werden geöffnet, und man lässt die Rettungsboote bemannt zu Wasser. In diesem Moment geht ein unbeschreiblicher Lärm durchs Schiff. „Nothalt!“ Alle Maschinen laufen bei voller Maschinenleistung rückwärts, Bug- und Heckstrahlruder heulen und drücken das Schiff in eine Schräglage nach Backbord. Das Schiff fährt, von oben betrachtet, eine Acht. Das Meer ist gespenstisch rot erleuchtet. Leuchtmunition und Signalraketen im Himmel. Wir haben beschlossen, den Geretteten, sofern wir ihn finden, an der Lotsenpforte neben dem Hospital an Bord zu nehmen. Ein Taucher und zwei Rettungsschwimmer sind bereit, die Ausrüstung des medizinischen Teams ist einsatzbereit.
Doch wir finden niemanden.
Was ist passiert? Der wachhabende Matrose hatte auf seinem Rundgang Frauenschuhe und einen angefangenen Brief unweit von „Rick’s Bar“ gefunden. Ist jemand gesprungen? In der Dunkelheit der Nacht das Meer abzu suchen,ist nicht einfach, vor allem nicht bei diesem Seegang. Vor einigen Jahren erlebte ich einen ähnlichen Fallin der Deutschen Bucht, ebenfalls mit Kapitän van de-Mache. Eine Offiziersanwärterin war nachts aus ungeklärter Ursache von Bord des Segelschulschiffs „Gorch Fock“ gefallen und unser Schiff beteiligte sich an der Suche, die ganze Nacht lang. Es war vergeblich.
Eine Stunde vergeht. Der Scheinwerfer huscht über die See, doch von der vermissten Frau keine Spur. Ist sie ertrunken?
„Frau über Bord!“ – was ist geschehen?
Der Kapitän lässt alle Gäste mitten in der Nacht in die Queen’s Lounge rufen. Eine Entscheidung, die ihm unter den Passagieren bestimmt nicht viele Freunde macht. Er hält eine kurze, aber eindrucksvolle Rede, in der er den Ernst der Lage schildert. Es geht um das Leben eines Menschen, um nicht weniger, und er trägt in diesem Moment die Verantwortung. Als er endet, fragt er eindringlich:
„Also: Wem gehören diese Schuhe und der Brief?“ Er hält das Papierstück in die Höhe.
Eine Pause entsteht, man kann die Spannung spüren. Eine junge Frau erhebt sich. Sie geht langsam nach vorne.
Ein Raunen im Raum, einige Passagiere buhen.
Die Nacht ist natürlich beendet, der neue Tag bricht am Horizont an, und die See leuchtet in tiefem Rot. Wir diskutierten noch einige Zeit und vermuten, dass die junge Frau springen wollte, sie aber der Mut verließ. Ich bin froh, dass es so ausgegangen ist. Als ich zum Frühstücksbuffet gehe, höre ich, wie ein „Vielfahrer“ der jungen Frau zuruft: „Am besten wäre es gewesen, Sie wären gesprungen!“
Die Menschenliebe endet für manche dort, wo die Nachtruhe in Gefahr ist. Zivilisation ist für mich schon lange keine Frage des sozialen Status mehr.“