Nordseesturm vor Weihnachten: In unserem neuen Buch Kapitäne erzählen 20 alte Seeleute aus ihrem Leben. Hier lest Ihr die Geschichte von Kapitän Michael Nicolaysen, der kurz vor Weihnachten durch den schwersten Sturm seines Lebens musste.
Der Nordseesturm hätte uns nicht mit solcher Stärke treffen sollen. Bis wir in seine Ausläufer gerieten, sollten wir uns längst im Windschutz der schottischen Küste sein und in Ruhe Weihnachten feiern können. So hatten es die Wetterberichte angekündigt und so hatte ich unsere Überfahrt anhand der eingegangenen Daten geplant.
Doch der Orkan hatte einen anderen Plan.
Er kam schneller als von den Meteorologen vorhergesagt. Und er kam viel heftiger als prophezeit. Er hatte seine Route südlich verlagert und heulte über die Shetlands in Richtung Norwegen.
Nordseesturm vor Weihnachten
Meine Frau begleitete mich auf dieser Reise. Sie war auf die Brücke gekommen und saß Achterkante auf der Bank. Unser Schiff rollte und stampfte stark. Sie rutschte hin und her. Ich werde nie den Moment vergessen, als sie aufstand und nach vorne an die Scheibe trat.
„Mein Gott! Ich kann das Schiff nicht mehr sehen“, sagte sie. Eine weiße See rollte über das gesamte Schiff.
Sie begann, leise zu weinen.
Ich hatte keine Angst in diesen Stunden, wohl aber spürte ich einen Respekt. Eine Menge Respekt, die jeder Seemann vor der See und den Elementen haben sollte. Die Natur ist gewaltig und immer stärker als wir. Unser Schiff war der Motortanker „Leng“, 134 Meter lang, 19,20 Meter breit, mit der höchsten finnischen Eisklasse, also besonders robust gebaut. Im norwegischen Hafen Mongstad hatten wir am 20. Dezember 1988 unsere Ladung gelöscht.
Alles war von Deck gestaut. Die Schotten waren dicht und mehrfach überprüft worden und die Seeschlagblenden auf dem Hauptdeck angebracht. Im Aufbau hatte ich alles laschen und seefest zurren lassen. Die Ballasttanks waren geflutet. Unser nächstes Ziel lautete Grangemouth, ein Chemiehafen im Firth of Fourth, Schottland. (…)
Durch den Nordseesturm
Schlechtwetter gibt es überall, doch berüchtigt ist unter Seeleuten die Nordsee. Als wir die Küste Norwegens verließen, setzte Schneetreiben ein, gefolgt von starkem Regen. Der Sturm drehte immer weiter auf, als schiebe man den Regler einer großen Turbine immer weiter bis an den Anschlag. Das Barometer fiel auf 962 Millibar. Am frühen Abend maßen wir Orkanstärke 12. Die Sicht: null. Es war schwierig, den Bug im Chaos aus Wellen und Gischt auszumachen. In diesen Stunden hörten wir den lokalen Wetterbericht einer Ölplattform. Dort wurden Wellenhöhen von 23 Metern gemessen. Dies entspricht der Höhe eines Hauses mit acht Stockwerken.
Jetzt rollten die riesenhaften Seen in Abständen von knapp zweihundert Metern heran, was einem das Gefühl gab, in einem großen Aufzug unterwegs zu sein. Der Autopilot hatte in der schweren See große Probleme, den Kurs zu halten. Ich schaltete die Automatik ab und setzte einen Matrosen ans Ruder.
Weil ich auch die Maschinendrehzahl der See anpasste, setzte ich mich schließlich selbst ans Ruder. Unterstützt wurde ich von den Offizieren, unter anderem mit Kaffee. In solchen Situationen ist das ständige Auffüllen der Mug von entscheidender Wichtigkeit.
Mit langsamer Fahrt ging es die Wellen hinauf. Auf der Spitze stellte ich den Hebel auf „Null“, um mit möglichst wenig Fahrt ins Wellental einzutauchen. Bei einer zu hohen Geschwindigkeit besteht die Gefahr, dass der Steven nicht wieder hoch kommt oder Schäden auf der Back entstehen.
Heiliger Abend vor Schottland
Höchste Konzentration. Höchste Anspannung. Immer die Kompassrose, den Umdrehungsanzeiger und das Radargerät im Blick, und dabei versuchen, irgendetwas voraus zu erkennen. Als Kapitän trägt man die Verantwortung für die Leben an Bord und selbstverständlich auch für das Schiff.
Wir haben es geschafft, auch durch diesen Sturm.
Den Heiligen Abend verbrachten wir im Firth of Forth. Bei ruhiger See, aber ohne Festtagsbraten. Im Nordseesturm hatte der Schiffskoch die Zutaten nicht vorbereiten können.