Der Brexit ist nun bittere Realität. Großbritannien verlässt die Europäische Union. Für Ankerherz-Verlagsleiter Stefan Kruecken ist es ein Tag der Trauer und der Wut. Ein Ergebnis von Lügen, Schamlosigkeit und Trümmern angeblich konservativer Politik.
Der Sturm kam doch noch und dann so heftig, dass wir einige Zeit im Auto sitzenblieben, weil der Regen gegen die Scheiben schlug. Vom Parkplatz des „The Britannia“ sieht man weit über die Nordsee, fast wie von einem Schiff auf hoher See. Margate, das alte Seebad ganz im Südosten der Insel, Grafschaft Kent, hat seine guten Zeiten lange hinter sich. Auch das „Britannia“ sieht nicht so aus, als ob es jemals in „Schöner Wohnen“ auftaucht.
Die Fassade ist abgebröckelt, mit Graffitis beschmiert, ein Schild warnt vor Dieben und weist auf die CCTV Kameras hin, die jede Bewegung filmen. Wir schauten nach, ob es ein anderes Hotel in der Gegend gibt, doch verwarfen den Plan. Das Wetter war einfach zu schlecht.
An diese Nacht im „Britannia“ denke ich heute morgen, am Tag, an dem Großbritannien offiziell die Europäische Union verlassen hat. Für mich ist es ein trauriger Tag. Der Brexit ist Realität – welch ein Wahnsinn, inmitten einer Pandemie, inmitten solch unsicherer Zeiten.
Wahnsinn namens Brexit
Inmitten einer Zeit, in der Europa zusammenrücken müsste, angesichts der Bedrohungen aus China und Russland und der Geteilten Staaten von Amerika. Nichts ist gut an diesem Brexit, für keine Seite. Europa ist ein Stück kaputtgegangen, ohne Sinn, ohne Verstand.
Er wird Großbritannien oder das, was übrig bleibt, wenn sich Schottland und Nordirland und irgendwann auch Wales losgesagt haben, wirtschaftlich nur Nachteile bringen. Die einzigen, die sich gut fühlen dürfen, sind ein paar vermeintliche Patrioten, die in ihrer Beschränktheit denken dürfen, ihr Land sei nun unabhängiger.
Die Geschichte des Brexit ist die Geschichte eines gigantischen Betrugs. Durch Politiker, die sich „konservativ“ nennen, aber es nicht sind. Upperclass-Schnösel wie David Cameron, der eine Abstimmung über den Brexit im maximaler Selbstverliebtheit vorantrieb, um ein paar Sympathie-Punkte bei rechten Hardlinern zu sammeln. Ein gerne angesoffener Prolet wie Nigel Farage, der so viele Lügen über die Europäische Union in die Welt setzte, dass selbst sein Buddy Donald Trump beeindruckt ist. Boris Johnson, die noch mieser frisierte Trump-Parodie, der beim Referendum tatsächlich zwei Texte zur Veröffentlichung geschrieben hatte: einen für den Brexit. Einen gegen den Brexit. Ein flexibler Clown, dem nur eines wichtig ist: die Macht des Boris Johnson.
Flexibler Clown und Bus voller Lügen
Als er sich dann festlegte, übertraf er mit einem roten Lügen-Bus, der durch das Land rollte, selbst die Phantasien des Farage: Angebliche Invasion durch Muslime. Angebliche Beiträge des UK an die EU. Angebliche Abhängigkeit der EU vom UK. Welche Rolle Russland in der Finanzierung der Lügenkampagne des Brexit spielt, wird untersucht. Zur Dreistigkeit gehört, dass noch am Morgen der Abstimmung Lügen zugegeben wurden, live im Fernsehen (siehe Clip). Befeuert wurde dieser Mix aus Verantwortungslosigkeit und Schamlosigkeit von Boulevardmedien, denen der Union Jack auf der Titelseite wichtiger war als ein kurzes Nachdenken über die Konsequenzen für folgende Generationen.
Der Pub des Britannia war voller Stammgäste an diesem Abend, die freundlich grüßten, hängengeblieben beim Sunday Roast, dem Sonntagsbraten. Am Tresen eine Menge tätowierter Kerle, in der Ecke blinkten gleich drei Spielautomaten. Die ewigen Rolling Stones sangen aus den Lautsprechern und im Fernseher an der Wand ging Newcastle gegen Manchester United in Führung.
Dann begrüßt uns die Wirtin, sie heißt Edna und freute sich wirklich, dass wir da waren. „Hamburg, lovely!“ Die ersten Pints gingen aufs Haus. Die Trinker am Tresen fragten unsere Kids, wo wir herkommen, und bei der nächsten Runde hoben sich tätowierte Hände zum Gruß.
Fischer fühlen sich betrogen
Mit einem Male stand eine Aluschale mit Pommes und den Resten des „Sunday Roast“ auf dem Tisch, einfach so, weil die Küche schon zu hatte und bei diesem Wetter doch kein Mensch vor die Tür wollte. „Enjoy“, sagte Edna. Es war so herrlich warm in diesem Pub, was überhaupt nichts mit der Heizung zu tun hatte.
Die Leute in Margate haben mit mehr als 60 Prozent für Boris Johnson, für die Konservativen und den Brexit gestimmt. Wegen der Fischerei, für die es ohne die strengen Auflagen aus Brüssel besser laufen soll. „Take back control“ war das Schlagwort, die Kontrolle über die eigenen Seegebiete, ein hochemotionales Thema. Alle Fischer in der exklusiven Wirtschaftszone vor den Inseln.
Was kam heraus beim Brexit-Abkommen, so kurz vor Schluss ausgehandelt? Großbritanniens Fischer haben einen Bruchteil der Rechte erhalten. Europas Fischer verzichten nur auf 25% der Fangquote, gestaffelt auf fünf Jahre. 2026 wird neu verhandelt, und die EU sitzt immer am längeren Hebel. Sollte London die Regeln einseitig ändern, erhebt Brüssel hohe Zölle auf britischen Fisch – und das war es dann mit „Rule Britannia“.
Wahr ist: EU-Fördergelder bleiben aus
Populistische Versprechen, das überhaupt vieles besser werden soll, haben sie während der Brexit-Kampagne viele gehört. Doch was davon ist wahr? Wahr ist, dass das moderne Museum im Ort, der einzige neue Anlaufpunkt für Touristen, von der Europäischen Union mitfinanziert wurde. Wie auch die Modernisierung des Hafens. Oder noch ein Dutzend anderer Bauprojekte in der Gegend.
Was passiert, wenn diese EU-Fördergelder bald ausbleiben, auch in Belfast, in Glasgow, im Nordosten Englands, werden die Menschen spüren. Als Erstes verlässt Großbritannien heute das Erasmus-Programm für die Auslandssemester aller europäischen Studenten. Im Januar 2020 hatte Boris Johnson im Unterhaus versprochen, Großbritannien bleibe unter allen Umständen Teil dieses Programms. Nun erklärte er, es sei zu teuer. Ein Lügner, durch und durch.
Am Tresen des „Britannia“, zwischen der Aluschale mit den Resten des Sunday Roast und dem nächsten Pint, fühlte es sich an, als wolle man sich aus der Welt zurückziehen. Wegducken im Sturm, der um die Hausecke heulte. Im Licht der Straßenlaternen sahen wir die Wellen der Nordsee, und drinnen sang man Karaoke.
Laut und trotzig und schief.
Stefan Kruecken, Jahrgang 1975, leitet mit seiner Frau Julia den von ihnen gegründeten Ankerherz Verlag. Vorher war er Polizeireporter für die Chicago Tribune und arbeitete als Reporter für Zeitschriften wie max, Stern und GQ von Uganda bis Grönland. Er liebt Großbritannien und ist mit seiner Familie dort oft und gerne zu Besuch.